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Die Lehr- und Wanderjahre.
Was willst du denn werden? war die Frage, die jetzt mein Vormund, ein Onkel von mir, an mich stellte. "Ich möchte das Bergfach studieren!" "Hast du denn zum Studieren Geld?" Mit dieser Frage war meine Illusion zu Ende.
Daß ich das Bergfach studieren wollte, war dadurch veranlaßt, daß, nachdem im Anfang der fünfziger Jahre die Lahn bis Wetzlar schiffbar gemacht worden war, in der Wetzlarer Gegend der Eisenerzabbau einen großen Aufschwung genommen hatte. Bis dahin hatten Haufen Eisenerze fast wertlos vor den Stollen gelegen, weil die hohen Transportkosten die Ausnutzung der Erze wenig rentabel machten. Da aus dem Bergstudium nichts werden konnte, entschloß ich mich, Drechsler zu werden. Das Angebot eines Klempnermeisters, bei ihm in die Lehre zu treten, lehnte ich ab, der Mann war mir unsympathisch, auch stand er im Rufe eines Trinkers. Drechsler wurde ich aus dem einfachen Grunde, weil ich annehmen durfte, daß der Mann einer Freundin meiner Mutter, der Drechslermeister war, und der in der Stadt den Ruf eines tüchtigen Mannes genoß, bereit sein werde, mich in die Lehre zu nehmen. Dies geschah auch. Die Begründung, mit der er meine Anfrage bejahte, war wunderlich genug. Er äußerte, seine Frau habe ihm erzählt, ich hätte mein religiöses Examen bei der Konfirmation in der Kirche sehr gut bestanden, er nehme also an, ich sei auch sonst ein brauchbarer Kerl. Nun war ich sicher kein dummer Kerl, aber ich müßte die Unwahrheit sagen, wollte ich behaupten, ich sei in der Drechslerei ein Künstler geworden. Es gab solche, und mein Meister gehörte zu ihnen, aber ich habe es trotz aller Mühe nicht über die Mittelmäßigkeit gebracht, was nicht verhinderte, daß ich drei Jahre später, am Ende meiner Lehrzeit, für mein Gesellenstück die erste Zensur bekam.
Meister und Meisterin waren sehr ordentliche und angesehene Leute. Ich hatte ganze Verpflegung im Hause, das Essen war auch gut, nur nicht allzu reichlich. Meine Lehre war eine strenge und die Arbeit lang. Morgens 5 Uhr begann dieselbe und währte bis abends 7 Uhr ohne eine Pause. Aus der Drehbank ging es zum Essen und vom Essen in die Bank. Sobald ich morgens aufgestanden war, mußte ich der Meisterin viermal je zwei Eimer Wasser von dem fünf Minuten entfernten Brunnen holen, eine Arbeit, für die ich wöchentlich 4 Kreuzer gleich 14 Pfennig bekam. Das war das Taschengeld, das ich während der Lehrzeit besaß. Ausgehen durfte ich selten in der Woche, abends fast gar nicht und nicht ohne besondere Erlaubnis. Ebenso wurde es am Sonntag gehalten, an dem unser Hauptverkaufstag war, weil dann die Landleute zur Stadt kamen und ihre Einkäufe an Tabakpfeifen usw. machten und Reparaturen vornehmen ließen. Gegen Abend oder am Abend durfte ich dann zwei oder drei Stunden ausgehen. Ich war in dieser Beziehung wohl der am strengsten gehaltene Lehrling in ganz Wetzlar, und oftmals weinte ich vor Zorn, wenn ich an schönen Sonntagen sah, wie die Freunde und Kameraden spazieren gingen, während ich im Laden stehen und auf Kundschaft warten und den Bauern ihre schmutzigen Pfeifen säubern mußte. Nur am Sonntag vormittag, nachdem ich die Sonntagsschule nicht mehr besuchte, wurde mir gestattet, zur Kirche zu gehen. Dafür schwärmte ich aber nicht. Ich benützte also die Gelegenheit, die Kirche zu schwänzen. Um aber sicher zu gehen und nicht überrumpelt zu werden, erkundigte ich mich stets erst, welches Lied gesungen werde und welcher Pfarrer predige. Eines Sonntags aber ereilte mich mein Geschick. Beim Abendessen frug der Meister, ob ich in der Kirche gewesen sei? Dreist antwortete ich: Ja! Er frug weiter: was für ein Lied gesungen worden sei? Ich gab die Nummer an, entdeckte aber zu meinem Schrecken, daß die beiden Töchter, die mit am Tische saßen, kaum das Lachen verbeißen konnten. Als ich nun auf die dritte Frage: wer von den Pfarrern predigte denn? auch eine falsche Antwort gab, schlugen diese eine laute Lache auf. Ich war hereingefallen. Ich war zu früh an die Kirchtüre gegangen, noch ehe der Küster die neue Liedernummer aufgesteckt hatte, und in bezug auf den Namen des Pfarrers war ich falsch berichtet worden. Der Meister meinte trocken: es scheine, daß ich mir aus dem Kirchenbesuch nichts machte, ich möchte also künftig zu Hause bleiben. So war ein schönes Stück Freiheit verloren. Ich warf mich nun mit um so größerem Eifer auf das Lesen von Büchern, die ich ohne Wahl las, natürlich meistenteils Romane. Ich hatte schon in der Schule meine Vorzugsstellung gegen Kameraden, denen ich beim Lösen der Aufgaben half oder ihnen das Abschreiben derselben erlaubte, dazu benutzt, sie zu veranlassen, mir zur Belohnung Bücher, die sie hatten, zu leihen. Dadurch kam ich zum Beispiel zum Lesen von Robinson Crusoe und Onkel Toms Hütte. Jetzt verwandte ich meine paar Pfennige, um Bücher
aus der Leihbibliothek zu holen. Einer meiner Lieblingsschriftsteller war Hackländer, dessen Soldatenleben im Frieden dazu beitrug, meine Begeisterung für das Militärwesen etwas zu dämpfen. Weiter las ich Walter Scott, die historischen Romane von Ferdinand Stolle, Luise Mühlbach usw. Aus der Väter Nachlaß hatten wir einige Geschichtsbücher gerettet. So ein Buch, das einen ganz vortrefflichen Abriß über die
Geschichte Griechenlands und Roms enthielt. Den Verfasser habe ich vergessen. Ferner einige Bücher über preußische Geschichte, natürlich offiziell geeicht, deren Inhalt ich so im Kopfe hatte, daß ich alle Daten in bezug auf brandenburgisch-preußische Fürsten, berühmte Generale, Schlachttage usw. am Schnürchen hersagen konnte. Schmerzlich wartete ich auf das Ende der Lehrzeit, ich hatte Sehnsucht, die ganze Welt zu durchstürmen. Aber so schnell, wie ich wünschte, ging es nicht. An demselben Tage, an dem meine Lehrzeit beendet war, starb mein
Meister, und zwar ebenfalls an der Schwindsucht, die damals in Wetzlar förmlich grassierte. So kam ich in die seltsame Lage, an demselben Tage, an dem ich Geselle geworden war, auch Geschäftsführer zu werden. Ein anderer Geselle war nicht vorhanden, ein Sohn, der das Geschäft hätte fortführen können, fehlte; so entschloß sich die Meisterin, allmählich auszuverkaufen und das Geschäft aufzugeben. Für die Meisterin, die eine auffallend hübsche und für ihr Alter ungewöhnlich rüstige Frau war, die mich stets gut behandelte, wäre ich durchs Feuer gegangen. Ich zeigte ihr jetzt meine Hingabe dadurch, daß ich über meine Kräfte arbeitete. Von Mai bis in den August stand ich mit der Sonne auf und arbeitete bis
abends 9 Uhr und später. Ende Januar 1858 war das Geschäft liquidiert, und ich rüstete mich zur Wanderschaft. Als ich mich von der Meisterin verabschiedete, gab sie mir außer dem fälligen Lohn noch einen Taler Reisegeld. Am 1. Februar trat ich die Reise zu Fuß bei heftigem Schneetreiben an. Mein Bruder, der das Tischlerhandwerk erlernte, begleitete mich ungefähr eine Stunde Weges. Als wir uns verabschiedeten, brach er in heftiges Weinen aus, eine Gefühlsregung, die ich nie an ihm beobachtet hatte. Ich sollte ihn zum letzten Male gesehen haben. Im Sommer 1859 erhielt ich die Nachricht, daß er binnen drei Tagen einem heftigen Gelenkrheumatismus erlegen sei. So war ich der Letzte von der Familie.
Mein nächstes Ziel war Frankfurt a.M. Von Langgöns aus benutzte ich die Bahn und kam so noch an demselben Tage den Abend in Frankfurt an, wo ich in der Herberge zum Prinz Karl einkehrte. Arbeit wollte ich noch nicht nehmen, so fuhr ich zwei Tage später mit der Bahn nach Heidelberg. Der Zug, auf dem ich fuhr, hatte statt Glasfenster Vorhänge aus Barchent, die zugezogen werden konnten. Damals bestand noch der Paßzwang, das heißt es bestand für die Handwerksburschen die Verpflichtung, ein Wanderbuch zu führen, in das die Strecken, die sie durchwandern wollten, polizeilich eingetragen--visiert--wurden. Wer kein Visum hatte, wurde bestraft. In vielen Städten, darunter auch in Heidelberg, bestand weiter zu jener Zeit die Vorschrift, daß die Handwerksburschen morgens zwischen 8 und 9 Uhr auf das Polizeiamt kommen mußten, um sich ärztlich, namentlich auf ansteckende Hautkrankheiten, untersuchen zu lassen. Wer die Stunde für diese Visitation übersah, mußte mit der Abreise bis zum nächsten Tage warten, er bekam kein Visum. So erging es mir, weil ich die Vorschrift nicht kannte und auf das Polizeiamt zu spät kam. Von Heidelberg wanderte ich zu Fuß nach Mannheim und von dort nach Speier, woselbst ich Arbeit fand. Die Behandlung war gut und das Essen ebenfalls und reichlich, schlafen mußte ich dagegen in der Werkstatt, in der in einer Ecke ein Bett aufgeschlagen war. Das geschah mir später auch in Freiburg i.B. In jener Zeit bestand im Handwerk noch allgemein die Sitte, daß die Gesellen beim Meister in Kost und Wohnung waren, und diese letztere war häufig erbärmlich. Der Lohn war auch niedrig, er betrug in Speier pro Woche 1 Gulden 6 Kreuzer, etwa 2 Mark. Als ich mich darüber beklagte, meinte der Meister: er habe in seiner ersten Arbeitsstelle in der Fremde auch nicht mehr erhalten. Das mochte fünfzehn Jahre früher gewesen sein. Sobald das Frühjahr kam, litt es mich nicht mehr in der Werkstätte. Anfang April ging ich wieder auf die Walze, wie der Kunstausdruck für das Wandern lautet. Ich marschierte durch die Pfalz über Landau nach Germersheim und über den Rhein zurück nach Karlsruhe und landaufwärts über Baden-Baden, Offenburg, Lahr nach Freiburg i.B., woselbst ich wieder Arbeit nahm. In jenem Frühjahr war die Nachfrage nach Schneidergehilfen ungemein stark; und da ich sehr
flott marschierte und im Aeußern der Vorstellung, die man sich von einem Schneidergesellen machte, durchaus entsprach, wurde ich auf dieser Reise öfter schon vor den Toren der Städte von Schneidermeistern angesprochen, die in mir ein Objekt für ihre Ausbeutung zu sehen glaubten. Mehrere wollten nicht glauben, daß ich kein Schneider sei, andere wieder entschuldigten sich, daß sie mich für einen solchen gehalten, "weil ich ganz wie ein Schneider aussähe".
Im September drängte es mich, weiterzuwandern. Ich verließ Freiburg und marschierte bei herrlichstem Wetter durch das Höllental über den Schwarzwald nach Neustadt, Donaueschingen und Schaffhausen. Ein wunderbarer Anblick war es in jenen Tagen, schon am Nachmittag am Firmament einen gewaltigen Kometen--den Donatischen--zu beobachten, der in seltenem Glanze strahlte und einen Schweif von ungewöhnlicher Länge besaß. Zu jener Zeit stand der Schwarzwald noch in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Jahrzehnte später haben die Axt und die Säge große
Strecken des prächtigsten Waldes gefällt und gelichtet. Die moderne Entwicklung forderte es. In der Schweiz durfte ich nicht bleiben. Der Aufenthalt in der Schweiz war damals den preußischen Handwerksburschen von ihrer Regierung verboten. War doch der Neuenburger Streit das Jahr zuvor erst zuungunsten der preußischen Regierung beendet worden. Außerdem hätten die Handwerksburschen republikanische Ideen in sich aufnehmen können, und das mußte im Interesse der staatlichen Ordnung verhütet werden. Als ich im Frühjahr 1858 auf der preußischen
Gesandtschaft in Karlsruhe um die Erlaubnis zum Aufenthalt in der Schweiz anfragte, wurde mir diese mit Hinweis auf das bestehende Verbot verweigert. So wanderte ich auf der Schweizer Seite nach Konstanz, fuhr zu Schiff über den Bodensee nach Friedrichshafen, wobei ich infolge eines Sturmes seekrank wurde. Von Friedrichshafen ging der Marsch zu Fuß über Ravensburg, Biberach, Ulm, Augsburg nach München. In Württemberg bestand zu jener Zeit in den Städten die Einrichtung, daß die reisenden Handwerksburschen ein sogenanntes Stadtgeschenk in Empfang nehmen konnten, das in der Regel 6 Kreuzer betrug, um sie vom Fechten abzuhalten. Ich habe dieses Geschenk überall gewissenhaft kassiert. Von Ulm aus schloß sich mir ein stämmiger Tiroler an, der wie ein Fleischer aussah, aber ein Schneider war. Statt eines Berliners trug er einen Militärtornister auf dem Rücken, was ihm, da er auch eine leinene Bluse trug, ein seltsames Aussehen gab. Da unser Geld knapp war und Fechten zu keiner Zeit als Schande für einen Handwerksburschen galt, klopften wir ziemlich häufig die Dörfer ab, die wir passierten. Eines Mittags hatten wir wieder in einem Dorfe einen strategischen Plan entworfen. "Du nimmst die rechte Seite, ich die linke!" hieß es. Als ich in ein Haus
kam und ansprach, erhielt ich von der Tochter mit dem Geschenk zugleich die Warnung, mich in acht zu nehmen, der Gendarm sei in der Nähe. Das ließ ich mir gesagt sein und sprach nicht mehr an. Als ich aber außen vor dem Dorfe ein stattliches Haus stehen sah, allerdings auf der anderen Seite, das aber aussah, als könnten seine Bewohner zwei Handwerksburschen unterstützen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und marschierte drauflos. Glücklicherweise betrachtete ich das Haus mir nochmals von außen, ehe ich die sechs oder sieben Steinstufen hinaufstieg, und da entdeckte ich zu meiner Ueberraschung über der Tür ein Schild mit dem Inhalt: Königlich bayerische Gendarmeriestation. Hier ging ich mit Andacht vorbei und legte mich außerhalb des Dorfes im herrlichsten Sonnenschein auf eine Wiese, um meinen Reisegenossen zu erwarten. Dieser kam endlich angetrappt und marschierte direkt auf das Haus los, das ja auf der ihm zugeteilten Seite lag. Ohne es von außen anzusehen, stieg er die Treppe hinauf und ging hinein. Ich gestehe, daß ich in diesem Augenblick von einem wahren Lachkrampf befallen wurde. Nach einigen Sekunden kam aber der Tiroler zum Hause herausgeschossen, sprang mit einem mächtigen Satze über sämtliche Treppenstufen und rannte, was ihn die Beine tragen konnten, davon. Als ich ihn lachend frug, was denn passiert sei, erzählte er: er sei direkt nach der Kuchel (Küche) gegangen, aus der es sehr gut gerochen habe, dort aber habe ein Gendarm in Hemdärmeln gestanden und ihn angeschnauzt, was er wolle. Er habe natürlich die Situation sofort erkannt und sei spornstreichs zum Hause hinaus.
Anderen Nachmittags kamen wir nach Dachau. Hier machte mein Reisekollege den Vorschlag, wir sollten beide bei den Schneidermeistern Umschau halten, was ich ganz gut könnte, da jeder mich für einen Schneider halte. Es sei hier bemerkt, bei einer Umschau bei den Meistern des Gewerbes fielen die Geschenke wesentlich reichlicher aus, als wenn man focht. Gedacht, getan. Vorsichtshalber ließ ich aber dem Tiroler den Vortritt. Daß dieses klug gehandelt war, zeigte sich sofort. Wir stiegen in einem Hause die Treppe hinauf und läuteten den Meister heraus. Sobald
der Tiroler sagte: Zwei zugereiste Schneider bitten um ein Geschenk, antwortete der Meister: Sehr erfreut, ich kann Sie beide gut brauchen, geben Sie mir Ihre Wanderbücher. Hatte er das Wanderbuch in der Hand, so war die Sklavenkette geschmiedet, denn alsdann mußte man zu arbeiten anfangen. Während nun der Tiroler zögernd sein Wanderbuch aus der Rocktasche zog, machte ich rechtsumkehrt und sprang in großen Sätzen die Treppe hinunter und zum Städtchen hinaus. Daß ich den Tiroler als Reisegefährten verlor, bedauerte ich, er war ein guter Kamerad und angenehmer Gesellschafter gewesen.
Von Dachau führte zu jener Zeit eine schnurgerade Straße, die rechts und links mit breitgewachsenen Pappeln besetzt war, nach München. Das Bildder Straße wurde abgeschlossen durch die Türme der MünchenerFrauenkirche, den Heinrich Heineschen "Stiefelknecht", die am Ende der meilenlangen Straße zu stehen schienen. Ich wanderte mißmutig meinen Weg, als hinter mir ein Bauer mit einem Korbwagen erschien, der offenbar nach München fuhr. Ueber den Inhalt des Wagens war eine große Plane gedeckt. Der Weg war noch weit und der Spätnachmittag herangekommen. Ich frug höflich an, ob mir das Aufsitzen gestattet sei. Der Bauer antwortete in seinem bayerischen Deutsch, das ich damals noch nicht verstand, aber seine Worte legte ich als Zustimmung aus. Ich stieg also auf den Wagen und rückte mich behaglich auf der Plane zurecht. Der Bauer sah wiederholt hinter sich und rief mir einiges zu, was ich aber ebenfalls nicht verstand. Endlich zogen wir in München ein. Der Wagen hielt am Karlstor vor einem Kaufmannsladen. Ich sprang ab, zog den Hut und dankte höflich für die Freifahrt. In demselben Augenblick hatte der Bauer die Plane zurückgezogen, an der jetzt ein mehrere Pfund schwerer Butterklumpen klebte. Ich hatte, ohne es zu wissen, mit den Stiefelabsätzen in einem nur mit der Plane bedeckten Butterfaß
herumgearbeitet. Sobald ich das angerichtete Unheil sah, wurde ich
blutrot, bat um Verzeihung und erklärte mich bereit, den Schaden zu
ersetzen. In demselben Augenblick erfolgte eine Lachsalve zweier junger
Mädchen, die aus einem Fenster der ersten Etage sahen und das Schauspiel
beobachtet hatten. Das machte mich noch verlegener. Der Bauer aber half
mir rasch aus der Verlegenheit, indem er auf mein Angebot, Schadenersatz
zu leisten, grob antwortete: "Mach', daß du fortkommst, du hast a nix!"
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen; in wenigen Sätzen war ich um die
Ecke in der Neuhauser Straße. So oft ich nach München ans Karlstor
komme, fällt mir dieser Vorgang wieder ein.
In München war ich am Tage nach Schluß der siebenhundertjährigen Feier
der Gründung der Stadt angekommen, eine Feier, die eine ganze Woche
gewährt hatte und an die sich unmittelbar das Oktoberfest anschloß. Die
ganze Bevölkerung war noch in dulci jubilo, und auf der Herberge in der
Rosengasse, auf der zu jener Zeit noch stark zünftlerische Sitten
herrschten, ging es hoch her. Ich wurde freundlich begrüßt und blieb
eine volle Woche in München, in dem es mir ausnehmend gefiel. Aber so
sehr ich und meine Kollegen sich bemühten, mir Arbeit zu verschaffen, es
war vergeblich. Alle Stellen waren besetzt. Keiner wich. So entschloß
ich mich, nach Regensburg zu wandern. Mit noch einem Reisegefährten, der
ebenfalls nach dort wollte, begab ich mich an die Isar, um zu sehen, ob
wir mit einem Floß bis Landshut fahren könnten. Man hatte uns gesagt,
daß wenn wir uns auf dem Floß zum Rudern bereit erklärten, wir gratis
mitfahren könnten und auch Verpflegung erhielten. Das erste war richtig,
das zweite nicht. Die Isar war um jene Zeit wasserarm und hatte
zahlreiche Krümmungen. Mein Reisegefährte--ein Trierer--, der vorne
steuerte und ich hinten, machte überdies seine Sache sehr ungeschickt,
und so fuhren wir einigemal auf den Sand, was den Flößer in Zorn
versetzte, wobei es Schimpfworte regnete. Während einer Ablösung ließ
ich mich mit den Passagieren, Bauersleuten und einem Pfarrer, in ein
politisches Gespräch ein, das von meiner Seite so hitzig geführt wurde,
daß der Flößer drohte, "den verdammten Preiß" in die Isar zu werfen,
wenn er nicht aufhöre, zu disputieren. Ich schwieg, denn mit dem Wasser
der Isar im Oktober Bekanntschaft zu machen, hatte ich keine Lust. Als
wir in Mosburg, einige Stunden vor Landshut, gegen Abend landeten,
schlugen wir uns seitwärts in die Büsche. Wir hatten von der Fahrt
genug.
In dem Nachtquartier, das wir bei dunkler Nacht, empfangen von wütendem
Hundegebell, in einem Dorfwirtshaus fanden, waren alle Räume überfüllt
mit Leuten, die am nächsten Morgen zum Jahrmarkt in Landshut sein
wollten. Wir mußten in der Scheune Platz nehmen, in der bereits einige
Dutzend Männlein und Weiblein durcheinanderliegend Platz genommen
hatten. Kaum lagen wir frierend im Halbschlummer, als wir durch Lärm
geweckt wurden. Eine der Frauen, die bereits im Stroh lag, war Zeugin,
wie ihr Mann der Magd, die ihn mit einer Laterne in der Hand zum
Nachtquartier in die Scheune geleitete, mit einigen derben
Zärtlichkeiten dankte. Darauf hielt sie ihm eine Strafpredigt im
echtesten Bayerisch, die alle Schläfer aufscheuchte und großes Gelächter
hervorrief. Morgens, es war noch pechfinster, suchten wir unseren Ausweg
aus der Scheune, wobei wir gewahr wurden, daß wir beide, die wir auf der
Höhe eines Heuhaufens uns quartiert hatten, während der Nacht auf
entgegengesetzten Seiten heruntergerutscht waren.
In Regensburg fand ich mit einem gleichfalls zugereisten Kollegen aus
Breslau in der gleichen Werkstatt Arbeit. Man hatte mir abgeraten,
dieselbe anzunehmen, der Meister sei in ganz Bayern als der größte
Grobian bekannt. Ich ließ mich aber nicht abschrecken.
In Regensburg erlebte ich nicht viel Bemerkenswertes. Im Kreise der
Fachgenossen, in dem ich verkehrte, war mit Ausnahme des Breslauers
keiner, der höhere geistige Bedürfnisse hatte. Wer am meisten trank, war
der Gefeiertste. So gingen wir beide die meisten Sonntagabende ins
Theater, in dem wir natürlich auf den Olymp stiegen, auf dem der Platz 9
Kreuzer kostete. Eines Tages wollten wir aber auch in der Woche uns ein
bestimmtes Stück ansehen. Das war aber undurchführbar, weil der Schluß
unserer Arbeitszeit mit dem Beginn des Theaters zusammenfiel. Wir gaben
also unserer Köchin gute Worte, das Abendessen eine halbe Stunde früher
anzurichten, wir würden die Uhr in der Stube entsprechend vorrücken.
Damals gab es in Süddeutschland und Oesterreich bei den Meistern stets
warmes Abendessen. Nach dem Essen kleideten wir uns rasch um und
stürmten nach dem Theater. In demselben Augenblick, in dem wir von der
einen Seite in dasselbe traten, kam von der anderen Seite der Meister
mit seiner Frau, und in demselben Augenblick schlug auch die Uhr auf
einer benachbarten Kirche sieben. Jetzt wäre erst unsere Arbeitszeit zu
Ende gewesen. Wir waren verraten. Merkwürdigerweise sagte der Meister am
nächsten Tage zu uns kein Wort, aber zur Köchin äußerte er: "Hören Sie,
Kathi, nehmen Sie sich vor den Preißen in acht, die haben gestern abend
die Uhr um eine halbe Stunde vorgerückt."
Von Regensburg aus stattete ich auch einen Besuch der Walhalla ab, die
oberhalb Donaustauf von der Bergeshöhe einen weiten Blick in die Ebene
gewährt. Bekanntlich ist Ludwig I. von Bayern, der "Teutsche", der
Erbauer der Walhalla, in der zu jener Zeit unter den aufgestellten
Büsten der Berühmtheiten diejenige Luthers fehlte.
Der Winter von 1858 auf 1859 war ein sehr langer und strenger. Hohe
Kälte setzte bereits Mitte November ein. Ein Streit mit dem Meister
veranlaßte mich, schon am 1. Februar, trotz Kälte und Schnee, auf die
Reise zu gehen. Der Breslauer schloß sich mir an. Wir marschierten
zunächst nach München, woselbst wir abermals vergeblich um Arbeit
anklopften. Nunmehr marschierten wir weiter über Rosenheim nach
Kufstein. Der Eintritt nach Oesterreich machte uns Kopfzerbrechen.
Damals wurde an der Grenze von jedem Handwerksburschen, der nach
Oesterreich wollte, der Nachweis von fünf Gulden Reisegeld verlangt.
Diese hatten wir aber nicht. So verfielen wir auf die Idee, von der
letzten bayerischen Station die Bahn nach Kufstein zu benützen. Um
möglichst als Gentlemen auszusehen, putzten wir extrafein unsere Stiefel
und Kleider und steckten einen weißen Kragen auf. Unsere List hatte den
gewünschten Erfolg. Unser sauberes Aussehen und die Tatsache, daß wir
mit der Bahn ankamen, täuschte die Grenzbeamten; sie ließen uns
unbeanstandet passieren. Bei starker Kälte und meterhohem Schnee ging
die Reise zu Fuß durch Tirol. Die Kälte und der Schnee trieben die
Gemsen aus dem Gebirge herab, deren Lockrufe wir auf dem Marsch in der
Abenddämmerung hörten. Sehr verwundert waren wir, beim Fechten reichlich
Geld zu erhalten, und zwar Kupferstücke in der Größe unserer heutigen
Zweimarkstücke. Als wir am ersten Abend in das Gasthaus traten, trugen
wir schwer an der Last der erfochtenen Münzen. Als wir aber am nächsten
Morgen unsere kleine Rechnung beglichen, mußten wir den halben
Wirtstisch mit diesen Kupfermünzen bedecken. Es stellte sich heraus, daß
dieselben in wenig Wochen wertlos wurden, weil die österreichische
Regierung neue Münzen herausgegeben hatte. So löste sich das Rätsel von
der großen Freigebigkeit, man war froh, das wertlos werdende Geld los zu
sein.
Endlich marschierten wir nach einer Reihe Tage über Reichenhall direkt
nach Salzburg, das wir an einem Nachmittag bei wundervollem Sonnenschein
erreichten. Wir standen wie gebannt, als wir bei dem Marsch um einen
niederen Gebirgsrücken (den Mönchsberg) die Stadt mit ihren vielen
Kirchen und der italienischen Bauart, überragt von der Feste Salzburg,
vor uns liegen sahen.
Was mir im späteren Leben als ein Rätsel erschien, war, daß ich von all
den Märschen, bei denen ich oft bis auf die Haut durchnäßt wurde und
jämmerlich fror, nie eine ernste Krankheit davontrug. Meine Kleidung war
keineswegs solchen Strapazen angepaßt, wollene Unterwäsche war ein
unbekannter Luxus und ein Regenschirm wäre für einen wandernden
Handwerksburschen ein Gegenstand des Spottes und Hohnes geworden. Oft
bin ich morgens in die noch feuchten Kleider geschlüpft, die am Tage
vorher durchnäßt wurden und am nächsten Tage das gleiche Schicksal
erfuhren. Jugend überwindet viel.
In Salzburg fand ich Arbeit, wohingegen mein Reisegefährte, nachdem ich
ihm mit dem Rest meines Geldes nach Kräften ausgeholfen, weiter nach
Wien reiste. In Salzburg verblieb ich bis Ende Februar 1860. Bekanntlich
ist Salzburg nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands,
denn damals gehörte es noch zu Deutschland; aber es steht im Rufe, im
Sommer sehr viel Regentage zu haben. Eine Ausnahme machte der Sommer
1859, der wunderbar genannt werden mußte. Der Sommer 1859 war aber auch
ein Kriegssommer. Der Krieg zwischen Oesterreich auf der einen und
Italien und Frankreich auf der anderen Seite war in Norditalien
entbrannt. Dadurch wurde das Leben in Salzburg insofern besonders
interessant, als Massen Militär aller Waffengattungen und Nationalitäten
singend und jubelnd nach Südtirol zogen. Einige Monate später kamen die
Armen niedergedrückt als Besiegte zurück, gefolgt von Hunderten von
Wagen mit Verwundeten und Maroden. Zunächst aber herrschte
siegesfreudige Zuversicht. Ich war über die politischen Ereignisse so
aufgeregt, daß ich an Sonntagen, für andere Tage hatte ich weder Zeit
noch Geld, nicht aus dem Café Tomaselli ging, bis ich fast alle
Zeitungen gelesen hatte. Als Preuße hatte man zu jener Zeit in
Oesterreich einen schweren Stand. Daß Preußen zögerte, Oesterreich zu
Hilfe zu kommen, sahen die Oesterreicher als Verrat an. Als guter
Preuße, der ich damals noch war, suchte ich die preußische Politik zu
verteidigen, kam aber damit übel an. Mehr als einmal mußte ich mich vom
Wirtschaftstisch entfernen, wollte ich nicht eine Tracht Prügel
einheimsen. Als dann aber die freiwilligen Tiroler Jäger aus Wien,
Nieder- und Oberösterreich nach Salzburg kamen und auch dort ihr
Werbebureau aufschlugen, packte mich die Abenteurerlust. Mit noch einem
Kollegen, einem Ulmer, meldeten wir uns als Freiwillige, erhielten aber
die Antwort: daß sie Fremde nicht brauchen könnten, nur Tiroler fänden
Aufnahme. War es nun hier nichts mit dem Mitdabeisein, so entschloß ich
mich, als jetzt verlautete, daß Preußen mobil mache, mich in der Heimat
als Freiwilliger zu melden. Ich schrieb sofort an meinen Vormund: er
möge mir zu diesem Zwecke einige Taler Reisegeld senden. Nach einiger
Zeit kam auch das Geld--sechs Taler--an, aber jetzt bedurfte ich
desselben als Reisegeld nicht mehr, denn mittlerweile war der Friede
von Villafranca geschlossen worden. Der Krieg war zu Ende. Dagegen
leistete mir das Geld gute Dienste, als ich im nächsten Frühjahr nach
Wetzlar reiste.
Die Löhne waren auch in Salzburg--wie überall in der
Drechslerei--schlechte. Da war sparen schwer. Ich hatte mir im
Spätherbst den ersten Winterrock auf Abzahlung gekauft; und als
gewissenhafter Mensch sparte ich nicht nur, ich darbte, um die
wöchentlichen Raten zahlen zu können. Dabei drückte mich noch eine große
Sorge. Die Arbeit war knapp, und ich fürchtete, als Jüngster in der
Werkstatt nach Neujahr die Kündigung zu erhalten. Das hatte die
Meisterin durch meinen Kollegen erfahren. Als ich nun ihr und dem
Meister am Neujahrstag gratulierte, gab sie mir die tröstliche
Versicherung, daß ich bis zu meiner Heimreise in Arbeit bleiben könne.
Damit fiel mir ein Stein vom Herzen. Unwillkürlich dachte ich an den
Neujahrsempfang, den der österreichische Gesandte, Baron von Hübner, das
Jahr zuvor bei der Gratulationscour in den Tuilerien gehabt hatte, bei
der die Ansprache Napoleons an Hübner als die Einläutung zum
italienischen Krieg angesehen wurde.
In Salzburg bestand ein katholischer Gesellenverein mit über 200
Mitgliedern, unter denen sich nicht weniger als 33 Protestanten, fast
alle Norddeutsche, befanden. Ich trat ebenfalls dem Verein bei, aus den
schon oben angeführten Gründen. Präses des Vereins war ein Dr. Schöpf,
Professor am dortigen Priesterseminar. Schöpf war ein junger,
bildschöner Mann mit einem äußerst liebenswürdigen und jovialen Wesen.
Er soll dem Jesuitenorden angehört haben. Schöpf wußte natürlich, daß
eine Anzahl Protestanten seinem Verein angehörten.
In einer Vereinsversammlung erklärte er eines Tages offen, daß ihm die
Protestanten die liebsten seien, weil sie zu den fleißigsten Besuchern
des Vereins gehörten. Jeden Sonntag abend hielt er einen stets stark
besuchten Vortrag, der ein reiner Moralvortrag war, den jeder, wes
Glaubens er immer war, ohne Bedenken besuchen konnte. Ich wurde mit Dr.
Schöpf bekannt, und auf seine Einladung besuchte ich ihn öfter Sonntag
nachmittag in seiner Wohnung, wo wir uns namentlich über die Zustände in
Deutschland und Oesterreich unterhielten, und er überraschend freie
Anschauungen äußerte.
Weihnachten rückte heran, und es sollte wie üblich vom Verein eine
Weihnachtsfeier veranstaltet werden. Im Verein hatte sich eine kleine
Musikkapelle und ein Gesangverein gebildet. Diese sollten bei jener
Gelegenheit Vorträge zum besten geben. Außerdem sollten nach Dr. Schöpfs
Vorschlag eine Anzahl Mitglieder, die verschiedenen deutschen
Volksstämmen angehörten, Deklamationen vortragen. Ich wurde als
Repräsentant der Rheinländer hierzu ausersehen. Ich hatte ein Gedicht
"Die Zigarren und die Menschen" vorzutragen. Die Uebungen fanden in Dr.
Schöpfs Wohnung statt, wobei er uns mit Bier und Brot regalierte. Bei
diesen Uebungen passierte mir, daß ich fast immer einen Fehler im
Schlußreim machte, indem ich ein Wort anwandte, das wohl zum Reim, aber
nicht zum Sinne des Gedichtes paßte. Dr. Schöpf warnte mich
nachdrücklich, doch ja am Festabend den Fehler nicht zu machen. Der
Festtag (19. Dezember) kam. Dem Fest wohnte eine illustre Gesellschaft
bei! Der Fürstbischof von Salzburg, der Abt von Sankt Peter und eine
Anzahl anderer Geistlicher, auch Vertreter der Behörden. Endlich kam
auch mein Vortrag an die Reihe. Kurz vor meinem Auftreten ermahnte mich
Dr. Schöpf nochmals, mich ja in acht zu nehmen, was ich ihm feierlichst
versprach. Aber mit des Geschickes Mächten ist kein ew'ger Bund zu
flechten, und das Schicksal eilet schnell. Abermals machte ich den
Sprechfehler, worauf im Hintergrund des Saales Dr. Schöpfs Arm
auftauchte, der mir mit der Faust drohte. Das Unglück war aber
geschehen, ich glaube, die meisten haben es nicht einmal bemerkt. Im
übrigen verlief die Feier sehr gemütlich, und ich ging, ohne Schaden an
meiner Seele genommen zu haben, vergnügt nach Hause.
Im März ist der St. Josefstag, der in Oesterreich ein hoher Feiertag
ist. St. Josef ist, wie ich schon anführte, der Schutzpatron der
katholischen Gesellenvereine. Einige Zeit vor diesem Tage hielt Schöpf
eine eindringliche Rede an die katholischen Mitglieder des Vereins, daß
sie an diesem Tage vollzählig zur Kirche gehen möchten. Er wisse wohl,
äußerte er, daß junge Leute sich gern darum drückten, aber diesmal gehe
es nicht, man dürfe ihn nicht blamieren, denn die Kaiserin--die Witwe
des Kaisers Ferdinand, die in Salzburg wohnte--, die viel für den Verein
tue, werde es sicher erfahren. Den Nachmittag, setzte er schmunzelnd
hinzu, machen wir dann eine Wallfahrt nach Maria-Plain, ein
Wallfahrtsort, dessen Kirche auf einem Hügel mitten in der Ebene, eine
gute Stunde von Salzburg, prachtvoll gelegen ist. Dort werde auf Kosten
der Kasse ein Faß Bier ausgelegt, das zweite zahle er, er sei sicher,
hierbei fehle niemand. Alle lachten. Ich glaube, er behielt recht. Die
Wallfahrt fand statt, wir Nichtkatholiken marschierten wohlgemut und
vollzählig im Zug, hinter der Fahne, die der Altgeselle trug, auf der
der heilige Josef mit dem Christkind auf dem Arme abgebildet war. In
Maria-Plain angekommen, besahen wir uns die überreich geschmückte
Kirche. Dann ging es zum Trunk. Die Fässer wurden rasch geleert, gar
mancher ging wankenden Schrittes nach Salzburg zurück. Der Zug war
aufgelöst. Wie die Fahne mit dem heiligen Josef wieder nach Salzburg
kam, weiß ich bis heute nicht.
Dr. Schöpf, ich und ein Hannoveraner traten zusammen den Rückweg an. In
der Stadt angekommen, führte er uns in ein Café, in dem wir eine Partie
Billard spielten. Es war für mich die erste und letzte, die ich in
meinem Leben spielte. Natürlich verloren wir zwei, aber Dr. Schöpf
zahlte.
Ende Februar 1860 reiste ich nach Hause. Einige dreißig Jahre später
schickte mir ein Ritter v. Pfister aus Linz einen Brief nach Berlin, in
dem es hieß: er habe nach Berlin reisen wollen und habe bei dieser
Gelegenheit mir einen Gruß vom Domherrn Dr. Schöpf in Salzburg
überbringen sollen, er sei aber durch Krankheit an der Reise verhindert
worden, so schicke er mir brieflich dessen Gruß. Wieso Dr. Schöpf sich
meiner erinnerte, ist mir ein Rätsel geblieben. Er konnte
unmöglich annehmen, daß der neunzehn- bis zwanzigjährige junge
Drechslergeselle--wenn er sich überhaupt dessen entsann--der spätere
sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete war. Solch tiefen Eindruck
hatte ich sicher nicht auf ihn gemacht. Ich nehme vielmehr an, daß
Kollegen aus dem Zentrum, denen ich gelegentlich meine Salzburger
Erlebnisse erzählte, den Domherrn davon unterrichtet hatten. Als ich
Anfang dieses Jahrhunderts nach langer Zeit wieder einmal nach Salzburg
kam, war Dr. Schöpf einige Jahre zuvor gestorben. Die joviale, heitere
Natur und die volle Lebensfreude soll er sich bis an sein Ende bewahrt
haben.
Ich will die Mitteilungen über meinen Salzburger Aufenthalt nicht
schließen, ohne noch eines Vorgangs zu erwähnen, der damals unter uns
jungen Leuten erzählt und viel belacht wurde. Zu jener Zeit lebte im
Sommer König Ludwig I. von Bayern, der bekanntlich wegen der
Lola-Montez-Affäre die Regierung niederlegte, in Schloß Leopoldskron, in
nächster Nähe Salzburgs. Der König, ein hoch aufgeschossener Herr, der
im grauen Sommeranzug, den Kopf mit einem großen, etwas ramponierten
Strohhut bedeckt und mit einem starken Krückstock in der Hand, öfter an
unserer Werkstatt vorbeipassierte, liebte es, in der Umgebung Salzburgs
allein Spaziergänge zu machen. Eines Tages machte er wieder einen
solchen und sieht, wie ein Knabe sich abquält, Aepfel von einem Baume
herunterzuwerfen. Der König tritt zu dem Knaben und sagt: "Schau, das
mußt du so machen!" und schleudert seinen Krückstock mit bestem Erfolg
in die Aeste des Baumes. Das hatte aber aus dem in der Nähe liegenden
Hause die Bäuerin beobachtet, die jetzt hochrot vor Zorn in die Tür trat
und dem König, den sie nicht kannte, zurief: "Du alter Lackl, schamst di
net, den Buam bein Aepflstehln z'helfe!" Der König nahm seinen
Krückstock und trollte sich von dannen. Am nächsten Morgen erschien ein
Diener und brachte der Bäuerin einen Gulden mit der Bemerkung: das sei
für die Aepfel, die gestern der Herr vom Baum geschlagen habe. Auf ihre
Frage, wer denn der Herr gewesen sei, erfolgte die sie höchst
überraschende Antwort: der König Ludwig.
Wenn ich hier einen verstorbenen Bayernkönig des Obstfrevels bezichtige,
will ich wahrheitsgemäß hinzufügen, daß auch ich in dieser Beziehung
nicht ohne Fehl und Sünde war. Es waren die prachtvollen Pfirsiche im
Mirabellengarten, der dem Fürstbischof gehörte, die es mir angetan
hatten. Ich konnte bei mehreren Spaziergängen in dem Garten der
Versuchung nicht widerstehen, einige der Früchte mir anzueignen. Ich
nehme an, dem Fürstbischof hat mein Obstfrevel nicht geschadet, und mir
bekamen die Früchte vorzüglich. Auch meine Gewissensbisse verschwanden,
als ich las, daß der heilige Ambrosius, der gegen Ende des vierten
Jahrhunderts Bischof von Mailand gewesen war, geäußert habe:
"Die Natur gibt alle Güter allen Menschen _gemeinsam_; denn Gott hat
alle Dinge geschaffen, _damit der Genuß für alle gemeinschaftlich sei_.
Die Natur hat also das Recht der Gemeinschaft erzeugt, und es ist nur
die _ungerechte Anmaßung_ (usurpatio), die das Eigentumsrecht erzeugte."
Konnte mein Tun glänzender entschuldigt, ja gerechtfertigt werden?
Zurück nach Wetzlar und weiter!
Am 27. Februar 1860 trat ich die Heimreise an. Bahnen gab es zu jener
Zeit im südöstlichsten Bayern noch nicht, außerdem reiste damals der
Handwerksbursche am billigsten zu Fuß, wenn er sich ein bißchen mit aufs
Fechten verlegte. Das Wetter war wieder miserabel. Als ich eines Tages
bei stürmischem Schneewetter, das mir ins Gesicht schlug, die Hände in
den Hosentaschen, den Stock unter dem Arme und die Hutkrempe ins Gesicht
gezogen, auf der Straße über den fränkischen Landrücken stapfte, wurde
ich plötzlich am Arm gepackt und in den Straßengraben geschleudert. Als
ich verwundert aufschaute, war es das Pferd vor einem mir
entgegenkommenden Fuhrwerk, das mich klugerweise am Arme gepackt und
beiseite geschleudert hatte. Bei dem stürmischen Wetter hatte ich das
herankommende Fuhrwerk weder gesehen noch gehört.
Um Mitte März kam ich nach mehr als zweijähriger Abwesenheit wieder in
Wetzlar an.
Bei der Militäraushebung wurde ich wegen allgemeiner Körperschwäche um
ein Jahr zurückgestellt. Dasselbe passierte mir die nächsten Jahre bei
der Gestellung in Halle a.S., so daß ich schließlich als
militäruntauglich entlassen wurde. Einstweilen trat ich, da eine
Arbeitsstelle in Wetzlar nicht zu haben war, bei einem jüdischen
Drechslermeister in Butzbach, zwei Meilen von Wetzlar, in Arbeit. Als
aber die Jahreszeit immer schöner wurde und eines Tages drei meiner
Schulfreunde mit dem Berliner auf dem Rücken in die Werkstatt traten und
mir mitteilten, daß sie sich auf der Wanderschaft nach Leipzig befänden,
"da zog es mich mächtig hinaus", wie es im Handwerksburschenlied heißt,
und ihnen nach. Ich versprach meinen Freunden, binnen drei Tagen zu
folgen, und hoffte sie einzuholen, falls sie nicht zu große Märsche
machten. Ich konnte dieses Angebot riskieren, denn im Marschieren war
mir zu jener Zeit keiner über.
Ich hatte bisher nicht die geringste Sehnsucht gehabt, Leipzig und
Sachsen kennen zu lernen, und wäre es auf mich angekommen, ich hätte
damals Leipzig und Sachsen nicht gesehen. Und doch war diese Reise in
mehr als einer Richtung entscheidend für meine ganze Zukunft. So
entscheidet sehr oft der Zufall über das Schicksal des Menschen.
Ich möchte hier einschalten, daß ich von dem Satze: der Mensch ist
seines Glückes Schmied, blutwenig halte. Der Mensch folgt stets nur den
Umständen und Verhältnissen, die ihn umgeben und ihn zu seinem Handeln
nötigen. Es ist also auch mit der Freiheit seines Handelns sehr windig
bestellt. In den meisten Fällen kann der Mensch die Konsequenzen seines
momentanen Handelns nicht übersehen; er erkennt erst später, zu was es
ihn geführt hat. Ein Schritt nach rechts statt nach links, oder
umgekehrt, würde ihn in ganz andere Verhältnisse gebracht haben, die
wiederum bessere oder schlechtere sein könnten als jene, in die er auf
dem eingeschlagenen Wege gekommen ist. Den klugen wie den falschen
Schritt erkennt er in der Regel erst an den Folgen. Oftmals kommt ihm
aber auch die richtige oder falsche Natur seines Handelns nicht zum
Bewußtsein, weil ihm die Möglichkeit des Vergleichs fehlt. Der
Selfmade-man existiert nur in sehr bedingtem Maße. Hundert andere, die
weit ausgezeichnetere Eigenschaften haben als der eine, der obenauf
gekommen ist, bleiben im verborgenen, leben und gehen zugrunde, weil
ungünstige Umstände ihr Emporkommen, das heißt die richtige Anwendung
und Ausnutzung ihrer persönlichen Eigenschaften verhinderten. Die
"glücklichen Umstände" geben erst dem einzelnen den richtigen Platz im
Leben. Für unendlich viele, die diesen richtigen Platz nicht erhalten,
ist des Lebens Tafel nicht gedeckt. Sind aber die Umstände günstig, so
muß allerdings die nötige Anpassungsfähigkeit vorhanden sein, sie
auszunutzen. Das kann man als das persönliche Verdienst des einzelnen
ansehen.
Ich holte die drei Freunde ein, noch ehe sie Thüringen erreicht hatten,
und kam gerade recht, um den einen, der bereits wunde Füße hatte,
hilfreich unter den Arm zu nehmen, was beim Durchwandern der Orte bei
den Bewohnern öfters Heiterkeit erregte. Wir passierten Ruhla, Eisenach,
Gotha und kamen nach Erfurt. Hier übernachteten wir zum ersten Male in
der Herberge eines christlichen Jünglingsvereins. Aber nur einmal und
nicht wieder. Das muckerische, schleichende Wesen des Herbergsvaters
widerte mich an. Am Abend mußten wir auf Kommando gemeinsam zu Bett
gehen. Als wir die erste Etage erstiegen hatten, öffnete sich die Tür zu
einem kleinen Saal, und eine Choralmelodie tönte uns entgegen, die ein
glatt gescheitelter, hellblonder Jüngling auf einem Harmonium spielte.
Ueberrascht traten wir ein, neugierig auf die Dinge, die da kommen
würden. Darauf trat der Herbergsvater auf ein Podium und las aus einem
Gesangbuch einen Vers Zeile für Zeile vor. Die zitierte Zeile hatten wir
unter Begleitung durch das Harmonium nachzusingen. Aehnliches war mir in
einem katholischen Gesellenvereinshaus nicht passiert. In München zum
Beispiel war an der Wand der Stube, in der wir zu zweit schliefen, ein
gedrucktes Gebet angeschlagen mit dem Ersuchen, es vor dem Zubettgehen
zu beten. Von einem moralischen Zwang keine Spur. Ich wiederhole, wie es
seitdem in den katholischen Gesellenvereinen geworden ist, weiß ich
nicht.
In Erfurt fing der geschilderte Vorgang an, uns zu amüsieren. Wir
brüllten wie Löwen die vorgespielte Melodie mit dem zitierten Text. Dann
ging's höher hinauf in den Schlafsaal. Nachdem vorschriftsmäßig unsere
Hemdkragen auf fremde Bewohner untersucht worden waren, stiegen wir zu
Bett. Darauf entfernte sich der Herbergsvater mit dem Licht, und
schwarze Dunkelheit herrschte. Jetzt ging aber unter den Dutzenden
junger Leute, unter denen fast alle deutschen Landsmannschaften
vertreten waren, ein Ulken und Spotten los, wie es mir bisher noch nicht
zu Ohren gekommen war. Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als in
der entfernteren Ecke des Saales ein Schlafgenosse aus Württemberg im
unverfälschtesten Schwäbisch einige humoristische Bemerkungen machte.
Erst spät nahm der Lärm ein Ende. Nächsten Tages marschierten wir nach
Weimar. Hier erklärten meine Begleiter, nicht weitergehen zu können,
denn alle drei hatten sich die Füße wundgelaufen; sie wollten mit der
Bahn nach Leipzig fahren. Ich protestierte dagegen, denn mein Geld war
sehr knapp, und was dann, wenn es in Leipzig keine Arbeit gab? Doch mein
Protest half nichts, wollte ich nicht allein reisen, so mußte ich
mitfahren. Am 7. Mai 1860, abends 11 Uhr, kamen wir in Leipzig an und
frugen uns durch nach der Herberge in der Großen Fleischergasse. Als wir
nächsten Tages beim herrlichsten Maiwetter die Stadt und die in voller
Frühjahrspracht stehenden Promenaden besichtigten, gefiel mir Leipzig
ungemein. Ich hatte auch Glück und bekam Arbeit, und zwar in einer
Werkstatt, in der ich den Artikel kennen lernte, auf den ich mich später
selbständig machte. Traf ich vierundzwanzig Stunden später in Leipzig
ein, so wäre die Stelle von einem anderen besetzt worden. So entschied
hier wieder "ein Augenblick des Glückes" über meine Zukunft. Zum
zweitenmal arbeitete ich in einer größeren Werkstatt. Es wurden fünf
Kollegen und ein Lehrling neben mir beschäftigt. Meister und Kollegen
gefielen mir, die Arbeit auch, bei der sich etwas lernen ließ. Was mir
aber nicht gefiel, war der schlechte Kaffee, den wir morgens erhielten,
und das an Quantität und Qualität äußerst mangelhafte Mittagessen.
Frühstück, Vesper und Abendbrot mußten wir uns selbst stellen. Die
Schlafstelle war beim Meister; wir schliefen sieben Mann in einer
geräumigen Bodenkammer. Ich fing sehr bald an, gegen die Kost zu
rebellieren. In einigen Wochen hatte ich die Kollegen so weit, daß sie
sich zu einer gemeinsamen Beschwerde bei dem Meister verstanden, wobei
wir erklärten, gemeinsam die Arbeit einzustellen, falls unsere
Beschwerde keinen Erfolg hätte. Wir drohten also mit Streik, noch ehe
einer von uns dieses Wort gehört hatte. Die Form der Abwehr ergab sich
eben aus der Sache selbst. Der Meister war äußerst betreten, er
erklärte, er verstehe die Klagen nicht, ihm schmecke das Essen
ausgezeichnet. Das war natürlich. Er aß mit seiner Familie später als
wir und bekam ein anderes Essen. Das wußte er nicht. Nach wiederholten
Verhandlungen erreichten wir, daß wir gegen entsprechende Entschädigung
von seiner Seite die Selbstbeköstigung durchsetzten, wobei er, wie er
behauptete, finanziell noch profitierte. Er hatte seiner Frau mehr für
unsere Verpflegung zahlen müssen, als wir forderten. Später erreichten
wir durch hartnäckiges Liegenbleiben im Bett, daß der Beginn der
Arbeitszeit von morgens 5 Uhr auf 6 Uhr hinausgeschoben wurde. Noch
später setzten wir auch die Stückarbeit durch, auf die der Meister nicht
eingehen wollte, weil er fürchtete, schlechte Arbeit geliefert zu
bekommen, worin er sich täuschte, wie er sich nachher überzeugte.
Schließlich erlangten wir auch das Wohnen außer dem Hause.
Persönliches
Für einen Mann, der im öffentlichen Leben mit einer Welt von Gegnern im
Kampfe liegt, ist es nicht gleichgültig, wes Geistes Kind die Frau ist,
die an seiner Seite steht. Je nachdem kann sie eine Stütze und eine
Förderin seiner Bestrebungen oder ein Bleigewicht und ein Hemmnis für
denselben sein. Ich bin glücklich, sagen zu können, die meine gehörte zu
der ersteren Klasse. Meine Frau ist die Tochter eines Bodenarbeiters an
der Leipzig-Magdeburger Bahn, der schon gestorben war, als ich sie
kennen lernte. Meine Braut war Arbeiterin in einem Leipziger
Putzwarengeschäft. Wir verlobten uns im Herbst 1864, kurz vor dem Tode
ihrer braven Mutter, und heirateten im Frühjahr 1866. Ich habe meine Ehe
nie zu bereuen gehabt. Eine liebevollere, hingebendere, allezeit
opferbereitere Frau hätte ich nicht finden können. Leistete ich, was ich
geleistet habe, so war dieses in erster Linie nur durch ihre
unermüdliche Pflege und Hilfsbereitschaft möglich. Und sie hat viele
schwere Tage, Monate und Jahre zu durchkosten gehabt, bis ihr endlich
die Sonne ruhigerer Zeiten schien.
Eine Quelle des Glückes und ein Trost in ihren schweren Stunden wurde
ihr unsere im Januar 1869 geborene Tochter, mit deren Geburt ein
amüsanter Vorgang verknüpft ist. Am Vormittag des betreffenden Tages saß
ich in der Stube vor meinem Schreibtisch und wartete in großer Aufregung
auf das erhoffte Ereignis, als an die Tür geklopft wurde und auf meinen
Hereinruf ein Herr in die Stube trat, der sich als Rechtsanwalt Albert
Träger vorstellte. Trägers Name war mir bereits durch seine in der
Gartenlaube veröffentlichten Gedichte und seine öffentliche Tätigkeit
bekannt. Nach unserer Begrüßung äußerte Träger verwundert: "Sie sind ja
noch ein junger Mann, ich glaubte, Sie seien ein älterer, behäbiger
Herr, der sein Geschäft an den Nagel gehangen hat und die Politik zu
seinem Vergnügen treibt." Ich stand in der üblichen grünen
Drechslerschürze vor ihm und antwortete lächelnd: "Wie Sie sehen, sind
Sie im Irrtum!" Wir unterhielten uns dann, bis ich in der Nebenstube den
erwarteten Kinderschrei hörte. Jetzt gab's für mich kein Halten mehr.
Mit wenigen Worten klärte ich Träger über die Situation auf, worauf er
mir herzlich gratulierte und sich entfernte. Einige Jahre später wurden
wir Kollegen im deutschen Reichstag und blieben bis heute, trotz unserer
prinzipiell verschiedenen Standpunkte, gute Freunde.
Meine Stellung in der Arbeiterbewegung wie meine Verlobung ließen mir
meine dauernde Niederlassung in Leipzig wünschbar erscheinen. Sachsen
hatte zwar im Jahre 1863 die Gewerbefreiheit eingeführt, aber wer als
"Ausländer" sie benutzen wollte, und das war jeder Nichtsachse, mußte
die sächsische Naturalisation erwerben. Das kostete damals viel Geld,
denn gleichzeitig mußte man sich auch in einer Gemeinde einbürgern
lassen. Zur Selbständigmachung und zur Naturalisation fehlten mir aber
die Mittel. Die letztere erforderte mit dem Bürgerwerden in Leipzig
zirka 150 Taler, und was ich von Hause erwarten konnte, waren zirka 350
Taler. Unerwarteterweise wurde ich zur Selbständigmachung gezwungen,
indem mir mein Meister Ende 1863 unter der Vorgabe, er habe keine Arbeit
mehr für mich, kündigte. In Wahrheit kündigte er mir, weil er gehört,
ich wolle mich selbständig machen. Er wollte sich also einen
Konkurrenten vom Halse halten. Ich reiste darauf nach Wetzlar und holte,
was an Geld flüssig zu machen war. Ich mietete dann ein Werkstattlokal
mitten in der Stadt, im Hofe eines Kaufhauses, das eben aus einem
Pferdestall in einen Arbeitsraum umgewandelt worden war. Das Lokal war
so primitiv, daß es noch keine Kaminanlage hatte, und ich bis zur
Fertigstellung derselben, wider alle polizeiliche Vorschrift, mein
Ofenrohr durch das Fenster in den Hof leiten mußte. Dasselbe Lokal mußte
mir auch, da meine geringen Mittel wie Butter an der Sonne
zusammengeschmolzen waren, als Schlafraum dienen, wobei ich in den
kalten Winternächten jämmerlich fror. Um die Naturalisation einstweilen
zu umgehen, hatte ich mein Geschäft unter der Firma eines befreundeten
Bürgers eröffnet, bis ich im Frühjahr 1866, um heiraten zu können, auch
die Naturalisation mit Schuldenmachen unternahm. Zwei Jahre später wären
mir viele Kosten infolge der Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes
erspart geblieben.
Ich begann mein Geschäft im kleinsten Maßstab, mit Hilfe eines
Lehrlings. Nach einigen Monaten konnte ich einen Gehilfen einstellen.
Als ich aber im Februar 1867 in den Reichstag gewählt worden war und nun
während meiner Abwesenheit meinem Gehilfen Einblicke in das Geschäft
gewähren mußte, die er sonst nicht erlangte, kündigte er mir nach meiner
Rückkunft und machte sich selbständig. Als ich diesen Vorgang später
einem ehemaligen Kollegen erzählte, meinte dieser trocken: "Das
geschieht dir recht, warum zahltest du einen Lohn, bei dem er sich Geld
sparen konnte." Dieser "horrende Lohn" betrug damals 4-1/2 Taler pro
Woche, er war um einen halben Taler höher als in jeder anderen
Werkstatt, auch währte bei mir die Arbeitszeit täglich zehn Stunden,
anderwärts elf.
Im übrigen lernte ich das Elend des Kleinmeisters gründlich kennen. Die
gelieferten Waren mußten auf längeren Kredit gegeben werden, Lohn für
das Personal, Spesen und der eigene Lebensunterhalt erforderten aber
täglich und wöchentlich Ausgaben. Woher das Geld nehmen? Ich lieferte
also einem Kaufmann meine Ware gegen Barzahlung zu einem Preis, der nur
wenig höher als die Selbstkosten war. Holte ich mir aber am Samstag mein
Geld, so erhielt ich lauter schmutzige Papierscheine, von denen damals
Leipzig durch seinen Verkehr mit den thüringischen Kleinstaaten
überflutet wurde. Jeder dieser kleinen Staaten nutzte sein Münzrecht
gründlich aus und überschwemmte mit Papiergeld den Markt. Aber dasselbe
wurde allgemein gegeben und genommen und galt als Verkehrsgeld. Daneben
erhielt ich aber auch öfter Coupons irgend eines industriellen
Unternehmens, die noch nicht fällig waren, oder Dukaten, die der
Manichäer derart beschnitten hatte, daß ich statt 3 Taler 5 Groschen,
wie sie mir angerechnet wurden, beim Bankier, bei dem ich sie wechseln
mußte, oft nur 3 Taler und weniger erhielt. Aehnlich ging es mit den
Coupons. Ich war über diese Zahlungsweise wütend, aber was wollte ich
machen? Ich ballte die Faust in der Tasche und lieferte die nächste
Woche wieder Ware und holte mir die gleiche Zahlung.
Meine öffentliche Tätigkeit brachte allmählich das Unternehmertum gegen
mich auf. Man verweigerte, mir Aufträge zu geben. Das war der Boykott.
Wäre es mir nicht gelungen, außerhalb Leipzigs in anderen Städten einen
kleinen Kundenkreis auf meine Artikel (Tür- und Fenstergriffe aus
Büffelhorn) zu erwerben, ich wäre Ende der sechziger Jahre zum Bankrott
gezwungen worden. Schlimm erging es mir während der Kriegszeit 1870/71,
in der an sich schon die Arbeit stockte. Als ich dann im Winter 1870/71
mit Liebknecht und Hepner in eine hundertzweitägige Untersuchungshaft
genommen wurde, mußte mir meine Frau eines Tages die Mitteilung zugehen
lassen, daß kein Stück Arbeit mehr verlangt werde, wohl aber mußten
wöchentlich Gehilfe und Lehrling bezahlt werden. Das war eine bitterböse
Situation. Doch sie wendete sich bald zum Besseren. Mit dem
Friedensschluß begann die Prosperitätsepoche, die bis zum Jahre 1874
währte. Die Bestellungen kamen jetzt ungerufen ins Haus, die Kunden
waren froh, wenn sie bedient wurden. Als ich daher im Frühjahr 1872 mit
Liebknecht meine zweiundzwanzigmonatige Festungshaft in Hubertusburg
antrat, der für mich noch neun Monate Gefängnis folgten, konnte ich das
Geschäft mit einem Werkführer, sechs Gehilfen und zwei Lehrlingen
zurücklassen. Seide gesponnen wurde freilich nicht, obgleich meine Frau
tüchtig auf dem Posten war. Die Geschäftskorrespondenz führte ich von
der Festung beziehungsweise aus dem Gefängnis. Schlimm wurde es wieder,
als 1874 mit dem Krach gleichzeitig mein Artikel durch Konkurrenten der
fabrikmäßigen Herstellung verfiel, und zwar zu Preisen, bei denen ich
mit dem Handbetrieb unmöglich mehr konkurrieren konnte. Ich dachte schon
daran, das Geschäft aufzugeben und in eine Parteistellung zu treten, da
wollte der Zufall, daß ich in der Person eines Parteigenossen, des
Kaufmanns Ferd. Ißleib in Berka a.W., einen Associé fand, der neben den
materiellen Mitteln die nötigen kaufmännischen Kenntnisse besaß und
sehr bald auch die nötigen technischen Kenntnisse in anerkennenswerter
Weise sich aneignete. Im Herbst 1876 bezogen wir eine kleine Fabrik mit
Dampfbetrieb, in der jetzt auch die Herstellung der betreffenden Artikel
aus Bronze vorgenommen wurde, in denen wir bald einen guten Ruf
erlangten. Anfangs hatten wir schwer zu kämpfen, denn noch wütete die
Krise. Meine Haupttätigkeit wurde nunmehr, die Kunden aufzusuchen und
die Geschäftsreisen zu unternehmen, durch die ich später, unter dem
Sozialistengesetz, der Partei die größten Dienste leisten konnte.
Nachdem ich dann 1881 auf Grund des sogenannten kleinen
Belagerungszustandes aus Leipzig ausgewiesen worden war, und diese
Ausweisung von Jahr zu Jahr erneuert wurde, ich auch zwischendurch
wieder Bekanntschaft mit den Gefängnissen gemacht hatte, löste ich im
Herbst 1884 das Associéverhältnis und trat in die Stellung eines
Reisenden für das Geschäft. Ich glaubte es meinem stets opferbereiten
Associé gegenüber nicht mehr verantworten zu können, an dem mäßigen
Nutzen eines Unternehmens teilzunehmen, für das er die Sorge und die
Hauptarbeit zu tragen hatte. Außerdem wurde ich durch meine dauernde
Entfernung von Leipzig dem inneren Gange des Geschäfts immer mehr
entfremdet. So legte ich 1889 auch die Stelle des Reisenden nieder und
widmete mich von jetzt ab ganz der Schriftstellerei, durch die ich in
dauernde geschäftliche Beziehungen zu meinem Freunde Heinrich Dietz in
Stuttgart kam.
Ich habe weiter oben bemerkt, daß man sich öfter ein ganz anderes Bild
von meiner Persönlichkeit machte. Darüber amüsierten wir--mein Associé
und ich--uns wiederholt. Jener entsprach im äußeren ganz der
Vorstellung, die man sich von mir machte. Er war ein großer, starker
Mann, der rotes Haar und einen roten Bart hatte, der bis auf die Brust
wallte. Da kam es denn vor, daß wenn jemand aufs Kontor kam, um mich zu
sprechen, mich aber nicht persönlich kannte, er sich an meinen Associé
wandte. Diese Verwechslung machte uns stets großes Vergnügen. Sehr
heiter stimmte mich auch, als ich eines Tages auf einer Geschäftsreise
in Tübingen war und ich mich in einer Weinwirtschaft von einigen
Bekannten verabschiedete, hinter mir ein Tübinger Bürger im reinsten
Schwäbisch verwundert äußerte: "Was? Der kloine Ma ischt d'r
Bebel?"--Aehnliches erlebte ich öfter. Auch kam es in früheren Jahren
nicht selten vor, daß auf der Eisenbahn Reisegefährten sich über mich
unterhielten, ohne zu ahnen, daß ich mitten unter ihnen saß und still
zuhörte. Es waren manchmal rechte Räubergeschichten, die ich anzuhören
bekam.
Quelle:
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